Montag, 9. März 2020

4. Teil: Ein Sachsengott „Krodo“?


Krodo
Die aus Edelstahl gefertigte Krodo-Statue auf dem Großen Burgberg - im Sonnenglanz. Sie ist an der ersten Darstellung der Figur in der "Chronecken der sassen" 1492 orientiert und wurde auf Initiative des "Fördervereins Historischer Burgberg e.V." von Volker Schubert geschaffen. (Einweihung des Denkmals 2007)

Wer die Burg besucht, wird sicher unter der Brücke, die Ost- und Westteil des Areals verbindet, eine auf einer Säule stehende, hell schimmernde, metallene Figur entdecken, mit wirrem Haar, starrem Blick, in der Linken ein Rad hoch haltend, in der Rechten einen mit Rosen gefüllten Korb tragend, mit wehendem Gürtelband angetan und barfuß stehend auf  einem stacheligen Fisch. Tafeln belehren den Betrachter, dass es sich um den altsächsischen Gott Krodo handele, der möglicherweise hier oder im „Krodotale“ verehrt wurde und dessen Heiligtum und Figur der Christianisierung der Sachsen durch Karl dem Großen zum Opfer gefallen sei. Macht der Besucher eine Führung mit, dann wird die Geschichte genauer und unterhaltsamer erzählt und er erhält eine „moderne“ Deutung der Figur mit ihren Attributen als Symbolen der „erneuerbaren Energien“ aus Erde, Wasser, Wind und Sonne. Wer einmal auf den Götzen aufmerksam geworden ist, wird ihn in Bad Harzburg an verschiedenen Stellen wiederentdecken. Er ist sogar zum „Maskottchen“ der Stadt geworden, mit dem sie wirbt und den man als lustig verkleidete Gestalt mieten kann. Allerdings beruht das auf einer Verwechslung. Das Maskottchen ist einer Figur im Harzburger Wappen nachgebildet. Diese stellt nicht Krodo dar, sondern den „Wilden Mann“, eine Symbolfigur für den Harz. (Goethe, Faust, II. Teil, 5865: "Riesen. Die wilden Männer sind s´genannt, Am Harzgebirge wohlbekannt, Natürlich nackt in aller Kraft, Sie kommen sämtlich riesenhaft. Den Fichtenstamm in rechter Hand Und um den Leib ein wulstig Band, Den derbsten Schurz von Zweig und Blatt...")

Bad Harzburg
Das Wappen der Stadt Bad Harzburg - das sie 1894 zur Stadterhebung annahm. Es zeigt ein Burgtor, das für die Harzburg steht. Über dem Tor erhebt sich der "Wilde Mann", Symbol für den Harz. (Bad Harzburg nennt sich "Tor zum Harz".) Im Burgtor ein Schild, das zwei Welfen-Löwen und den geteilten Reichadler zeigt. Das Schild ist an dem Wappen Ottos IV. orientiert ( siehe 2. Teil des Blogs). Das Burgtor-Symbol erinnert an die Goldene Bulle Friedrichs II. (siehe 3. Teil des Blogs)
Krodo
"Krodo" - das Maskottchen Bad Harzburgs ist eigentlich der "Wilde Mann" - hier sehr freundlich! (Karte des "Stadtmarketings")
bad_harzburg_maskottchen
Das Maskottchen in Aktion

Die volkstümliche Nachgestaltung von volkstümlichen lokalen Figuren ist mir aus Katalonien bekannt, wo fast jede Gemeinde ihre Heroen und Sagengestalten als „Giganten“ oder „Schwellköpfe“ bei Festivitäten aufmarschieren lässt. Gegen solchen spielerischen Umgang mit Sagenfiguren oder ihrer Vermarktung ist nichts zu sagen.

Aber in Bad Harzburg nimmt man das ernster. Insbesondere im Harzburger Umfeld streitet man für und wider die Existenz dieses Götzen, die sich in einer ganzen Reihe von mehr oder wenig „wissenschaftlichen“ Veröffentlichungen in Heimatzeitschriften und –büchern oder Webseiten niederschlägt.

                                 "Echte" Krodo-Figuren in Bad Harzburg

Krodo
...am Rathausbrunnen (1970) - in zeitgemäß-alternativer Männer-Haarmode
Krodo
...am "Haus der Natur" (1936/38) - "völkisch"-jugendstilhaft

Wenden wir uns also der Frage zu, was es mit Krodo auf sich hat.

Man könnte meinen, dass die Gestalt Krodos eine Erscheinung von begrenzter lokaler und zeitlicher Reichweite sei. Eine Abhandlung von Dominik Fugger belehrt uns eines anderen (Krodo, Eine Göttergeschichte, Wolfenbütteler Hefte 35, Wiesbaden 2017). Nach der Einführung  der Figur in einer braunschweigischen spätmittelalterlichen Chronik entfaltete sie ein erstaunliches Weiterleben und fand eine europaweite Verbreitung. Generationen von Theologen wetzten an dem rätselhaften Götzen ihr religionswissenschaftliches Messer und fügten ihn in immer neue Deutungsrahmen ein, ohne zunächst seine geschichtliche Existenz zu bezweifeln.  Schriftsteller und Maler folgten mit ihren Gestaltungen, bis ihn im 19. Jahrhundert als „vermeintlichen Götzen“ ein Todesurteil ereilte, allerdings auch nur „vermeintlich“.  

An sich ist wissenschaftlich zur Krodo-Sage wenig mehr zu sagen, als der Wernigeroder Regierungsrat Christian H. Delius in seiner akribischen und polemischen „Untersuchung über die Geschichte der Harzburg und den vermeinten Götzen Krodo“, Halberstadt 1826, festgestellt hat. Dennoch war der Götze nach seinem Todesurteil durch Delius nicht tot zu bekommen und es ist geradezu eine Ironie der Geschichte, dass der Glaube an den gestürzten Heidengott immer wieder Anhänger findet. So vertrat der Harzburger Heimatforscher Wilhelm Lüders, in seiner – bezeichnenderweise 1937 erschienenen – Schrift: Das Krodotal bei der Harzburg, Auf den Spuren einer altgermanischen Kultstätte (Harzburger Altertums- und Geschichtsverein, Neue Folge, Heft 1) die Auffassung, dass in der Sage von Krodo doch ein historischer Kern stecken könnte, was er mit ortsgeschichtlichen Überlieferungen und Funden belegen wollte.

Ich schaue manchmal in einem von Hermann Jens verfassten „Mythologischen Lexikon“, München 1958 (Goldmann-TB) nach, wo sich tatsächlich bei den Gestalten der germanischen Mythologie ein Eintrag über Krodo findet – ohne jede kritische Bemerkung. Surft man im Internet unter dem Stichwort „Krodo“, so findet man Webseiten von Freunden oder Gläubigen der germanischen Religion, in denen der Götze hochgehalten wird – oft mit für mich bedenklichem nationalistischen Touch. So ist für manche die Statue auf dem Burgberg geradezu ein „Pilgerziel“ geworden.

Einen ziemlich abenteuerlichen Bezug auf den angeblichen Sachsengott fand ich in der Dresdener Web-Ausgabe der „Bild-Zeitung“ (Dresden.bild.de): Die fette Schlagzeile lautete: 
22.12.2012
„Mystischer Altar in Dresdner Heide entdeckt“
Dann wird berichtet, dass der „Hobby-Historiker“ und Schriftsteller Mike Vogler zwei große Steinblöcke als germanische Opferstätte identifiziert habe. 
„Hier opferten unsere Vorfahren um 400 nach Christi ihrem Fruchtbarkeitsgott junge FrauenDer Germanenstamm der Hermunduren verehrte den altsächsischen Gott Krodo als Beschützer u.a. der Fruchtbarkeit und Ernte. Hier stimmten sie ihn mit Opfern gnädig.“ Und: „Als die heidnischen Ureinwohner um 1000 zum Christentum bekehrt wurden, stempelten Bischöfe, Priester und Mönche Krodo als Kröte, als Machwerk des Teufels, ab.“ 
Vogler ist der Meinung, dass Karl der Große das Bildnis des Sachsengottes "persönlich" gestürzt habe. - Menschenopfer für Krodo? Kein guter Leumund für den Sachsengott, wenn es ihn denn gegeben hat! Aus dem Buch von Dominik Fugger erfährt man allerdings, dass die Verbindung Krodos mit Menschenopfern zwar nicht auf den "Erstberichterstatter" zurückgegeht, aber schon eine längere Tradition hat.

Gemälde von Friedrich Georg Weitsch (1798) "Das Opferfest des Crodo auf der Harzburg" (Akademie der Künste, Berlin, Bild: www.nordharz-portal.de). Der jüngere Weitsch war braunschweigischer Hofmaler und Mitglied der Berliner Kunstakademie. Das Bild erhielt bei einem Ausschreiben den ersten Preis und brachte dem Maler die Direktorenstelle der Berliner Akademie ein. Weitsch hat das Bild auf Grund des Studiums der seinerzeitigen Krodo-Literatur (Hinwendung zur germanisch-nordischen Deutung der Gestalt)  gründlich vorbereitet. Eine dunkle Krodo-Figur steht im Hintergrund auf einer Säule, vor ihm der Opferaltar, der dem Goslarer "Krodo-Altar" nachgebildet ist. Dem Götzen wird ein Kind geopfert und zwei gebundene römische Soldaten (links unten im Bild). Das im antikisierenden Stil gehaltenene Bild feiert nicht vergangenheitsverklärend den Götterkult der Germanen, sondern drückt eher den Abstand des bürgerlich-aufgeklärten  Malers und der zu erwartenden Betrachter gegenüber den grausamen und überwundenen Sitten der Vorfahren aus.

Der Ursprung der Krodo-Sage


Die Überlieferung von Krodo taucht spät auf: in der in mittelniederdeutscher Sprache abgefassten „Chronecken der sassen“, die von  dem Mainzer Buchdrucker Peter Schöffer – einem Schüler Gutenbergs – 1492 herausgegeben und in seiner Werkstatt gedruckt wurde. Sie wurde mit farbigen – in manchen Ausgaben schwarz-weißen – Abbildungen eines unter der Kürzel WB erscheinenden Holzschneiders versehen. Die Chronik steht mit ihrem Anfang in der Nachfolge der im Mittelalter verbreiteten „Weltchroniken“, wenn sie ihren „Bericht“ mit Adam und Eva, dem „Sündenfall“ und der „Sintflut“ bis hin zur Geburt Jesus Christi eröffnet. Dann folgen wenige Ausführungen über die Römer, wobei in unserem Zusammenhang wichtig ist, dass nach dem Autor die Römer die sieben Planeten als „Affgodde“ (Abgötter) verehrten: Sol (Sonne), Luna (Mond), Mars, Mercurius, Jupiter, Venus und Saturnus. Der Autor erzählt auch, dass „Keyser Julius“ – er meint Caesar – ins Sachsenland kam und dort sieben „Burgen“ baute, denen er jeweils einen der Sternengötter zuordnete. Offensichtlich will der Autor damit den genannten Orten bzw. einigen daraus entstandenen Städten eine „Weihe“ geben, die bis in die Antike zurück reicht. 

Bote-Sachsenchronik
Chronecken der sassen: Caesar ("Julius") und die sieben Burgen (Quelle: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel / Chronecken der Sassen / Conrad Bote / Online-Ausgabe / Mencsz / Peter Schöffer, 1492). Die "Hartesborch" ist ganz rechts zu sehen. Die weiteren Seiten/Bilder der Sachsenchronik stammen aus derselben Quelle (Wolfenbütteler Digitale Bibliothek)

Diese Weihe kann allerdings nicht ungebrochen weiter bestehen. Der „zweite“ Julius (Caesar), Karl der Große, zerstört die heidnischen Heiligtümer und gibt dem ganzen Sachsenland und einigen der alten Heidenstätten eine neue Weihe, durch die Gründung von Kirchen, Klöstern und Bischofssitzen.

Dass Caesar nach Germanien kam und dort befestigte Städte gründete oder Burgen baute, ist keine Erfindung des Autors der Sachsenchronik. Die "Caesar-Sage" ist zwar nicht historisch, aber eine durchgehende Überlieferung mittelalterlicher Geschichtswerke, ebenso, dass er den Kult der römischen Götter zu den Germanen brachte. Die um 1150 von einem Regensburger Geistlichen geschaffene Kaiserchronik nennt die sieben "Abgötter", die Caesar nach Deutschland verpflanzt habe. Wie schon das Annolied (um 1080) führt sie das römisch-deutsche Kaisertum auf Caesar zurück. Eine der Handschriften der in mittelniederdeutsch und Prosa verfassten Sächsischen Weltchronik (um 1230 in Magdeburg entstanden) nennt die "Hartesborch" als Gründung Caesars, ohne sie mit einem Kult zu verbinden.

Die Chronik verlässt bald den „weltgeschichtlichen“ Rahmen und wendet sich der Vorgeschichte und der „Geschichte“ der Sachsen zu. Nach damals und noch lange später verbreiteter Auffassung – der Autor sagt: „ick vinde in der schrifft“ und meint damit seine Vorlagen - sieht er den Ursprung der Sachsen in versprengten Teilen des Heeres Alexanders des Großen. Diese „Macedones“ kamen nach langem Umherziehen „einen Teils nach ´Prussen`, einen Teils in das Land, das man heute Sachsenland nennt“. Auch hier der Versuch, eine Kontinuität zur Antike herzustellen. In der Zentrierung auf die sächsische Geschichte hat die Schrift einige Vorbilder, aus denen sie auch schöpft. In der Folge zieht dann vor dem Leser und Betrachter ein bunter Reigen von Text-/Bilderbögen zu Entstehungsgeschichten und Ereignissen von Städten, Bistümern, Orden, Fürstenhäusern, Schlachten, Sagen, Legenden und anderes mehr vorüber, alles nach Jahreszahlen geordnet. Die Ereignisse und Personen beziehen sich auf das weite altsächsische Siedlungsgebiet, greifen aber auch auf andere Gebiete über, die damit in Verbindung stehen. Im Mittelpunkt stehen die Fürstenhäuser der Welfen und der Askanier, der Schwerpunkt bei den Städten bildet Braunschweig und Magdeburg. Die Chronik endet mit dem Jahr 1489.

Es ist die spätmittelalterliche Umwelt der Adressaten der Chronik, die uns in ihr vor Augen tritt. Deutlich wird neben dem lokal-regionalen Interesse ein christlicher Universalrahmen des Weltverständnisses, mit Einschluss antiker Bezüge.

Die Schrift wendet sich wohl vor allem an das gehobene, wohlhabend und selbstbewusst gewordene Bürgertum der Städte wie Braunschweig (viele Handelskaufleute), aber auch an den mit dieser Schicht verknüpften Stadtadel, wobei natürlich die bildungsinteressierten und gelehrten Teile dieser Sozialgruppen angesprochen werden. Dieses neue und alte „Patriziat“ steht in Auseinandersetzung mit den Mitbestimmung fordernden unteren Volksschichten. So will man sich seiner Ursprünge, Geschichte und Legitimationen vergewissern, wobei die Institutionen wie Kirche, Adels- und Herrscherhäuser, mit denen die Städte verbunden sind - samt Genealogien und Wappen - in dem Werk besondere Berücksichtigung finden. Die Sachsenchronik ist deutlich adels- und kirchenfreundlich und zeigt eine konservativ-restaurative Tendenz. Der Autor bemüht sich, eine Kontinuität in den disparaten Verlauf der Geschichte der Herrscherhäuser und der Territorien hinein zu bringen (wobei das in unseren Augen eine „Konstruktion“ ist). Das Geschichtsverständnis der Sachsenchronik bewegt sich im „Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit“ (Brigitte Funke). Zu der christlich-universalen Perspektive tritt das Interesse an Territorien und städtischen Gemeinschaftsbildungen. Intention des Autors ist auch, angesichts der damaligen Zersplitterung der alten sächsischen Lande die Erinnerung an eine übergreifende sächsische National-Identität zu wecken oder wach zu halten.

(Nur in Parenthese, das heutige Bundesland „Sachsen“ ist nicht identisch mit dem altsächsischen Siedlungsgebiet, das sich über das heutige „Niedersachsen“ und darüber hinaus erstreckte. Die Hinüberwanderung der Landesbezeichnung „Sachsen“ ins Thüringische ist dadurch erfolgt, dass das Herrscherhaus der Wettiner den Titel der „Herzöge von Sachsen“ erbte.)

Die „Chronecken der sassen“ - Wer ist der Verfasser?


Die „Chronecken“ wird 1492 ohne Verfassernamen gedruckt. Johannes Pomarius, ein evangelischer Pfarrer in Magdeburg, der sie 1588 in der „Meißener“ Sprache, d.h. der Sprache Luthers, herausgibt (mit kritischen Anmerkungen), weiß noch nichts über den Verfasser.  Gottfried Wilhelm Leibniz überliefert sie in seiner 1711 erschienenen Sammlung „Scriptores Rerum Brunsvicensium…, Band 3, unter Angabe des Verfassernamens „Conrado Bothone, Cive Brunsvicensi… (Bürger Braunschweigs). Cord Bote war ein in Wernigerode geborener Goldschmied, der 1475 bis 1401 in Braunschweig in Steuerlisten und Registern nachweisbar ist. Dieser „Bote“ ist sonst schriftstellerisch nicht hervorgetreten. Hingegen ein anderer „Bote“, nämlich der in jüngster Zeit vielfach diskutierte Hermen (Hermann) Bote (ca. 1467-1520), wohl aus derselben Wernigeroder Sippe wie Cord stammend, ein Zollschreiber des Braunschweiger Rates. Er hat neben anderen Werken zwei Weltchroniken verfasst, eine „Braunschweigische“ und eine „Hannoversche“. Sie sind als Handschriften erhalten und zeigen große Ähnlichkeiten und Parallelen zur gedruckten „Chronik der Sachsen“ (vgl. dazu:  Gerhard Cordes, Altes und Neues vom Krodo, in der „Frölich-Festschrift“, Goslar 1952, S. 6 ff.).

Von daher neige ich, wie andere, dazu, die „Sachsenchronik“ dem sicher literarisch interessierten und mit den damaligen Geistesströmungen (Humanismus) wohl nicht ganz  unvertrauten  „Schreiber“ Hermen Bote eher zuzutrauen als einem „Goldschmied“ Cord Bote, der von seiner Profession her anderes zu tun hatte, als Schriften zu verfassen. Es gab in Braunschweig einen Humanistenkreis, dessen Anfänge schon vor 1500 liegen. Hermen Bote werden auch eine Bearbeitung des Eulenspiegel-Stoffes und „Reinecke der Fuchs“ zugeschrieben, die ebenfalls anonym erschienen.

Dass Hermen Bote Schriften anonym veröffentlichte, mag damit zusammenhängen, dass er sich wegen kritischer Texte und Spottgedichten mehrfach bei den Braunschweiger Handwerker-Gilden unbeliebt gemacht hatte, was zu Hausarrest, Amtsentzug und Lebensbedrohung führte.  Vielleicht hat man dann in der Braunschweiger Tradition die anomyme und bald viel gelesene Sachsenchronik lieber seinem offensichtlich unbescholtenen Handwerker-Verwandten zugeschrieben, als dem missliebigen, den Patriziern zugeneigten Literaten. Übrigens dürfte die Verbindung zum Mainzer Drucker über verwandtschaftliche Beziehungen der Sippe zustande gekommen sein, da die Tochter Schöffers, Catharina, einen „Botho/Bothe“ heiratete.

All dieses „Drumherum“ ist nicht ganz unwichtig, um den Rahmen zu verstehen, in dem die Überlieferung von Krodo erscheint.

Karl der Große zerstört „Abgötter“ – Die „Arbeitsweise“ des Autors


Ehe wir zu Krodo kommen, soll zuerst der Zusammenhang geschildert werden, in dem das Kapitel über ihn steht. Die Sachsenchronik verbindet den Bericht über diese Gestalt mit dem Sachsenkrieg Karls des Großen. Als erstes Bild eines „Affgoddes“ in den angeblich von Caesar errichteten Burgen mit Tempel zerstört Karl das des „Armesule“ in dessen „Tempel“ auf der „Marsborch“. Dieser Abgott wird „als gewappneter Krieger“ – in zeitgenössischer Aufmachung als Fahne tragender Ritter – geschildert und abgebildet. Er steht nicht auf einer Säule, sondern inmitten von Blumen und wird von einer Reihe weiterer Attributen begleitet. Ein Teil der Zuschreibungen lassen sich als zeitgenössische „Einkleidung“ des römischen Kriegsgottes ausmachen, so die kriegerische Aufmachung, die Wappen-Fahne und das Wappen-Schild. Anderes ist Frucht von Schulgelehrsamkeit oder humanistischer Bildung. 

Bote-Sachsenchronik
Der Abgott "Armesule" oder "Mars" nach der Sachsenchronik

Das Blumenfeld, auf dem die Gestalt steht, die „Feldblume“ in der Flagge und im Wappenschild gehen auf eine Angabe des römischen Schriftstellers Ovid zurück. Ovid erzählt in seinem Lehrgedicht „Fasti“ („Festkalender“ 5, 229-260), dass die Göttin Juno mit Hilfe der Blumen-Göttin Flora durch Berührung einer Blume Mars empfangen habe. Auch der Hahn auf dem Helm des Gottes ist nach antiker Tradition ein Tier des Mars. Andere der allegorischen Abzeichen des Marsbildes sind durch „Wortspiele“ entstanden. So wundert man sich, dass Mars eine Waage trägt und auch im Schilde führt, was überhaupt nicht zu ihm passt. Wie die Texterläuterungen des Autors zeigen, sind sie Ausdruck des „Wage-Mutes“, der Mars und den tapferen Krieger auszeichnet. Doch auch aus dem „er-wägen“ kommt „viel Gutes“! Ebenso weist der „bare“ (Bär), der die Brust des Gottes ziert, auf kriegerische Tugenden hin, genauso wie der Löwe im Wappen, der zudem noch auf das Wappentier der Welfen und Braunschweigs anspielt. So erweist sich das angeblich heidnische Götterbild als Konstruktion des Autors und des Holzschneiders. Es ist übrigens deutlich, dass spätere Zeichnungen der Irminsul - z. B. Sebastian Münster, Cosmographey (Druckausgabe um 1590) - auf die Abbildung in der Sachsenchronik zurückgehen.

Fränkische Annalen bezeugen, dass Karl der Große zum Auftakt der Sachsenkriege 772 eine „Irminsul“ (d.h. „Große Säule“) zerstören ließ, die wohl auf oder in der Nähe der Eresburg im Sauerland stand. Außer der Nennung des Namens der Säule wird über diese nichts Näheres berichtet (Regesta Imperii, Karolinger, Karl der Große, RI. I n.149d). Später (ab 863) wird die „Säule“ von den Mönchen Rudolf und Meginhart aus Fulda als großer aufgerichteter Baumstumpf (truncus ligni) beschrieben, den die Sachsen unter freiem Himmel verehrten, wobei nicht deutlich ist, ob dieser „Kultpfahl“ mit einem Gott und mit welchem verbunden wurde („Translatio S. Alexandri“, MGH, Scriptores = SS 2, p. 676). Schon daraus ergibt sich, dass der Verfasser der Sachsenchronik sich zwar auf ein historisches Geschehen bezieht, aber dieses phantastisch und mit zeitgeschichtlichen Zutaten ausschmückt. Dies dürfte auch schon in seinen Vorlagen angebahnt sein. 


Karl der Große läßt die "Irminsul" zerstören - Wandbild von Hermann Wislicenus (1825-1899) im "Kaisersaal" der Goslarer Pfalz

Überhaupt weiß man im Mittelalter sehr wenig Authentisches über die Religion der Germanen, man bezieht sich vor allem auf antike Quellen wie die „Germania“ des Tacitus, Caesars „De Bello Gallico“ und den christlichen Theologen Paulus Orosius aus der Hispania mit seinem „Geschichtswerk gegen die Heiden“. „Heidentum“ wird vor allem durch die römischen Götter repräsentiert, die man besser zu kennen meint, und deren Züge man – wie schon die antiken Schriftsteller - auf die germanischen Götter überträgt. Übrigens finden die römischen Autoren keine Entsprechung für „Saturn“ bei den Germanen, dies bleibt erst dem Verfasser der Sachsenchronik überlassen. Das Argument, das aus dem römischen Heer in den Harz zurückgekehrte germanische Soldaten – was schon an sich zweifelhaft ist - ihren hypothetischen Gott „Krodo“ mit dem römischen Saturn identifiziert haben könnten, gehört zu den „Rettungsmanövern“ für die Verehrung eines Sachsengottes „Krodo“ auf der Harzburg. 

Der Bericht über Krodo folgt – nach einigen weiteren Erzählungen - als zweites Zerstörungswerk Karls des Großen an den von Caesar eingeführten Göttern. Das dritte schließt sich übrigens gleich darauf an, es betrifft Burg und Heiligtum der „Venus“. Sie wird mit ihren „megeden“, d.h. ihrem Mädchen-Gefolge, in einem von Schwänen und Tauben gezogenen Wagen, nackend, mit langen Haaren, Rosen und Äpfeln, also mit ihr zugeschriebenen Attributen und Symbolen, dargestellt. Nach diesen „megeden“ wird die früher als „Parthenopolis“ („Jungfrauenstadt“) bezeichnete Stadt „Megdeborch“ (Magdeburg) genannt. Auch dies als Beispiel zur antikisierenden und auf Wortspielen beruhenden, aber natürlich nach heutigem Verständnis historisch wenig verlässlichen „Arbeitsweise“ des Autors.

Historische Irrtümer des Verfassers der Sachsenchronik haben schon seine literarischen Nachfolger bemerkt. Der gelehrte Hamburger Albert Krantz nennt den Autor in seiner „Saxonia“ (1520) (lat.) „belua“, d.h. „Untier“ und „fabulator“ („Märchenerzähler“), sein Übersetzer, der Magdeburger Schulrektor Basilius Faber setzt noch einen drauf und bezeichnet ihn in der Manier Luthers als „groben Esel“ (1. Buch, XXV. Kap., S. 449). Übrigens hat schon Krantz die Vorstellung von Caesars Stiftung eines Saturn-Heiligtums durch die Vermutung ersetzt, Germanen im römischen Kriegsdienst hätten die Saturn/Krodo-Verehrung zu den Sachsen gebracht.

Der Bericht über Krodo lautet ins Neuhochdeutsche übersetzt folgendermaßen:
„Zu der Harzburg (to der hartesborch) stand ein Abgott, der hieß Krodo, den zerstörte er [Karl der Große], und er war so gestaltet, wie hiernach gezeigt ist.  
Es folgt das Bild (siehe unten).
Ich finde in der Schrift, dass hier in Ostsachsen bei der Harzburg gestanden hat ein Abgott nach Saturn. Und den hießen die Leute und das gemeine Volk Krodo. Und dieser Abgott stand auf einer Säule und auf einem Barsch. Das bedeutete, dass sie wollten auf festen Füßen stehen. Wenn der Abgott barfuss auf dem Barsch stand, bedeutete das, dass die Sachsen  barfuss auf Schermessern gehen sollten, ehe sie sich sollten [einem Herrn] zu eigen geben. Dass der Abgott gegürtet war mit einem leinenen Schurz, das bedeutete, dass sie frei wären von [durch] ihrem[n] Gott Saturn und sollten sich sträuben gegen ihre Verfolger wie der Barsch gegen den Hecht. Und der Abgott hatte in seiner vorderen [linken] Hand ein Rad. Das bedeutete, dass sich die Sachsen sollten fest zusammenschließen in eins. Und in der rechten Hand einen Wassereimer. Das bedeutete, dass er wäre eine Mutter der Kälte; und die Rosen in dem Eimer bedeutete, dass er wäre ein Born der Früchte. So beteten sie seine Macht an, auf dass ihnen der Frost an ihren Früchten keinen Schaden täte. Der König Karl kam in das Land und bekehrte die Ostsachsen. Da sprach er: Wer ist euer Gott? Da rief das gemeine Volk: Krodo, Krodo ist unser Gott. Da sprach König Karl: Heißt Krodo euer Gott? Das heißt: der Kröten Teufel! Von dem Wort kam das böse Wort unter den Sachsen. Und da zog König Karl zur Harzburg und zerstörte Krodo, den Abgott, und gründete den Dom zu Seligenstadt, das nun Osterwieck heißt, zur Ehre von St. Stephan."
Bote-Sachsenchronik
Krodo nach der Sachsenchronik

Wenden wir uns der Beschreibung und dem Bild zu. Zunächst einmal fällt auf, dass die Figur antikisierend auf einer Säule steht, wie ja auch Krodo dem römischen Saturn(us) nachgebildet sein soll. Saturn war bei den Römern der Gott des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit, außerdem galt er als Herrscher des „Goldenen Zeitalters“. Durch die Identifizierung mit dem griechischen Gott „Kronos“ („Zeit“) wurde er auch zum Herrn der Zeit und des Wandels. Die Attribute in der Abbildung der Sachsenchronik entsprechen nicht traditionellen Beifügungen des Gottes, zu denen ein Hackmesser oder eine Sichel (als Ernte-Werkzeug) und oft ein Kind, das der Gott verschlingt, gehören. Letzteres geht auf den griechischen Mythos zurück, dass Kronos auf Grund der Prophezeiung, dass ihn einer seiner Söhne besiegen werde, seine Götterkinder gleich nach der Geburt verschlang, außer Zeus. Diese Attribute tauchen in Text und Bild der Sachsenchronik nicht auf. (Vielleicht ist die Erwähnung der „Schermesser“ im Text eine Anspielung auf das Erntemesser des Saturn.). Überhaupt fällt auf, dass Autor und Bildner Krodo freundlich, nicht als Menschen verschlingender „Moloch“, darstellen, sondern als eine Art biederer „Landwirt“ seiner Zeit. Das lässt beim Autor auf eine gewisse Sympathie für den Sachsengott schließen. Ich vermute, die spätere Zuschreibung, dass Krodo Menschopfer dargebracht worden seien, hängt mit dem Kinder verschlingenden Kronos/Saturn zusammen. Wenn also in der Sachsenchronik die erschreckenden Attribute fehlen, lassen sich die angeführten trotzdem dem Saturn zuordnen – in zeitgeschichtlicher Umformung. (Ich beziehe mich hier auch auf bildliche Darstellungen des 15./16. Jahrhunderts.)

Der Rosenkorb entspricht dem Erntegott, der gelegentlich mit Füllhorn abgebildet wird. Hinzu kommt, dass aus seinen - nach dem Mythos - von Zeus abgetrennten und ins Meer geworfenen Geschlechtsteilen Aphrodite/Venus entstand, deren Blume die Rose ist. Das erhobene Rad deutet hier auf das „Schicksalsrad“ hin, dass ihm als Herrn des zeitlichen Wandels zukommt, ein im Spätmittelalter verbreitetes Symbol. Es gibt Darstellungen, die ihn mit einem „Schlangenrund“, dem „Uroboros“ zeigen, was Zeitenlauf und Ewigkeit symbolisiert. Das Rad hat in den Abbildungen der Sachsenchronik auch heraldische Funktion, es taucht mehrfach in Wappen auf, vor allem in dem von Bischöfen. Das führt aber hier nicht weiter.

Was ist mit der traditionell und auch in Harzburg verbreiteten Deutung des Rades als „Sonnenrad“? Der Autor der Chronik verwendet dieses Symbol an anderer Stelle: bei der Erklärung des Namens „Salzwedel“. Nach ihm ist „Soltvedel“ der Ort, an dem „Sol“, der römische Sonnengott verehrt wurde, und von daher komme der Name der Stadt. Er beschreibt den Sonnengott als „einen halben Menschen, der in beiden Händen vor der Brust ein großes Rad mit brennenden Kerzen trug“. Ein Bildnis des Gottes fehlt in der Ausgabe von 1492. In der Übersetzung von Pomerarius 1588 ist ein Bild ergänzt worden. Es zeigt den Sonnengott mit einem Flammenrad in der Brust und einem Strahlenkranz um das Haupt. In dem Krodobild der ursprünglichen Sachsenchronik gibt es keinen Hinweis auf ein Sonnenrad. Die zutreffende Deutung des Rades ergibt sich aus dem Text: „…rad. Dat bedudde dat sick de sassen scholden vast besluten in eyn.“ Das Rad ist eine Allegorie für die Einigkeit, die die Sachsen festhalten sollten. Das passt gut zu dem, was der Autor in einem Abschnitt zum „Sachsenrecht“ über die alten Sachsen sagt: sie seien „entrechtich und fredesam“ (einträchtig und friedsam) nach innen und „gar grymmich“ nach außen gewesen.

Wenn Hermen Bote der Autor der Sachsenchronik ist, passt das auch zu anderen Schriften, dem „Schichtboik“ (1510-14), in dem er die Sozialunruhen in Braunschweig zu seiner Zeit beschreibt und ebenso zum „Radboek“ (ca. 1492/93: Van veleme rade byn ik eyn boek…). Er beklagt „twidracht“ und „twipart“ unter den Bürgern, der „endracht“ und das „ghemeyne guth“ zum Opfer fallen. Im „Radbuch“ greift er das Bild des Rades auf (mit der Doppeldeutigkeit von „Rad“ und „Rat“!). Die gesellschaftlichen Stände sollen zum Gemeinwohl zusammenwirken, wie die Räder an einem Wagen oder im Mühlwerk ohne Hemmnisse und Widerpart zusammenlaufen müssen, wenn das Ganze funktionieren soll. Und so könnte es sein, dass er schon in der sächsischen Chronik in Krodo seinen sächsischen Lesern einen guten „Rat“ gibt.

Es ist durchaus spürbar, dass der Autor Linien der „Kontinuität“ zwischen den „heidnischen“ und christlich gewordenen Sachsen herstellen will, auch wenn er als treuer Katholik die Zerstörung der „Abgötter“ nicht bedauert.

Somit zeigt sich die Deutung des Rades im Krodobild als „Sonnenscheibe“ als „germanisierende“ Eintragung, die Autor, Text und Bild nicht entspricht. Die bei Burgführungen vertretene Ansicht, Fisch, Korb, Gewand, Rad sei von der von Bote nacherzählten  biblischen Schöpfungsgeschichte her zu deuten, erscheint auf den ersten Blick als die Lösung des Rätsels der Symbole, ist aber bei näherem Zusehen nicht haltbar. Bote nennt zwar bei der Erschaffung von Himmel und Erde, die „vier Elemente…Wasser, Feuer, Licht und Erde“, aber der heidnische Affgodde als geheimer Träger biblischer Botschaften? Nein, diese Vermutung hat keinen Anhalt im Text!

Schwierigkeiten macht die Deutung des stachligen Fisches, auf dem Krodo steht. Natürlich denkt man sofort an ein Wassersymbol. Aber was hat das mit Saturn zu tun? Der „Barsch“ scheint auf Saturn überhaupt nicht zu passen und die moralisierende Textdeutung, die der Autor gibt, hilft in diesem Fall auch nicht weiter. Woher könnte das Bild kommen? Beim Stöbern in zeitgeschichtlichen Bildern zu Saturn, fielen mir zwei Zeichnungen auf. Die eine stammt von dem italienischen Maler Campagnola (1482-1515). Sie zeigt „Saturnus“, der in nachdenklicher Haltung inmitten einer Landschaft – in einem Fluss ähnlichen Gebilde - liegt, im Hintergrund sieht man eine Meeresbucht mit Schiff. Eine auf 1484 datierte, in Brügge entstandene Illustration zu Ovids „Metamorphosen“ stellt den entmannten Saturn auf einem Thron sitzend dar – diesmal mit den traditionellen Attributen – umgeben von den ihn entmachtenden Göttergestalten (in zeitgenössischer Aufmachung). Auch hier ist in der Szenerie das Meer zu sehen, aus dem Venus steigt. Ebenso zeigt das berühmte Bild von Dürer „Melancolia“ (1514), das ja den „saturnischen“ Charakter - nach astrologischer Lehre - darstellt, im Hintergrund das Meer. In solchen astrologischen Darstellungen Saturns ist also eine Verbindung des Gottes zum Wasser zu finden, die wohl über seine Tochter Venus zustande gekommen ist. Eine andere Spur ist, dass Saturn in astrologischen Bildern oft in Verbindung mit dem (Winter-)Tierkreiszeichen „Wassermann“ (und „Steinbock“) gezeigt wird. 

Gulio Campangnola (1482-1515) Saturn (als Flussgott), Kupferstich (1500-1515), Paris, Bibliothèque Nationale, Cabinet Estampes (Quelle: www.zeno.org)
Der entmannte Saturn auf Thron, umgeben von den Göttern, die ihn entmachtet haben. Bild: Ovide moralisé, Druck von Colard Mansion 1451-1500 (Quelle: Flandrica.be, De collectie, Openbare Bibliotheek, Brugge, Metamorphoses)

Dass der Autor zumindest eine Ahnung von diesen astrologischen Konstruktionen hat, zeigt sich, wenn er dem Saturn einen „Wassereimer“ in die Hand gibt und ihn „Mutter der Kälte“ nennt. „Kälte“ ist eine Qualität, die astrologisch dem „winterlichen“ Planeten Saturn – sein Fest in Rom, die „Saturnalien“, wurden Ende Dezember gefeiert - und dem Saturncharakter zugeschrieben wird. Gerade im „Humanismus“ der damaligen Zeit erfuhr der in der Astrologie traditionell negativ bewertete Saturneinfluss aber eine Aufwertung: die  winterlich-saturnische „Kälte“ - übertragen: der „Rückzug“ ins kontemplative Leben - kann schließlich – wenn die „winterliche Starre“ weicht -  „Früchte“ tragen und „Rosen“ erblühen lassen  (Wilhelm Knappich, Geschichte der Astrologie, Frankfurt/M., ²1988, S.188). Auch der Ausdruck „Born der Früchte“ weist auf die Wasserbezogenheit Saturns hin, und so ist es nicht verwunderlich, dass Saturnstatuen in Barockgärten oft inmitten von Wasserbassins (Versailles) zu finden sind. Könnte es nicht sein, dass man die stachligen Fische vor diesem Hintergrund sehen muss, als auf Saturn bezogenes Kälte- und Wassersymbol? 

Soweit meine Deutung der Attribute Saturn-Krodos. Bleibt noch zu sagen, dass der schwungvolle Wurf des Gürteltuches der Gestalt nicht unbedingt auf „Wind“ hindeuten muss. Er gehört zur traditionellen Ausstattung von Saturnfiguren und überhaupt zur Darstellung zeitgenössischer Gestalten.

 

Krodo - Rekonstruktion einer "Konstruktion"


Ich komme zu der schwierigen Frage, woher der Autor der Sachsenchronik den Namen „Krodo“ seines Sachsen-Abgottes hat. Der Verfasser beruft sich auf Vorlagen, „Schrifften“. Ich habe die mir zugänglichen sächsischen Chroniken durchgesehen. L. Weiland hat sie in den MGH herausgegeben (SS, Deutsche Chroniken, 2) Dabei habe ich – wie andere vor mir – nichts über Krodo gefunden. Es bleibt unerfindlich, auf welche Quelle sich der Autor der Sachsenchronik bezieht. Bezieht er sich auf eine lokale Sage? Das wäre ja möglich bei der Abkunft der beiden Botes aus einer Wernigeroder Sippe. Aber dann hätte der Autor – wie es Hermen Bote gelegentlich tat – gesagt: „Ich höre sagen…“

So hat man den Verdacht, dass der Autor den Abgott Krodo auf Grund seiner quasi „theologisch-geographischen“ Konstruktion von den sieben Burgen und den damit verbundenen Planetengöttern auf die Harzburg selbst eingeführt hat und die unsichere Überlieferung durch einen „Schriftbeweis“ erhärten wollte.  Eigentlich blieb für den Ort des Saturn-Heiligtums nur die Harzburg übrig. Bote weiß von der (wahrscheinlich unhistorischen) Stiftung eines Bischofssitzes durch Karl den Großen in Osterwieck, der dann nach Halberstadt verlegt worden sei. Osterwieck scheint ihm wohl als Sitz eines heidnischen Heiligtums ungeeignet – aus welchen Gründen auch immer. Da legte es sich nahe, dieses in der Nähe zu suchen, wofür die für die Sachsengeschichte bedeutsame Harzburg in Frage kam. Immerhin gelangte die Harzburg 1491 wieder an das Welfenhaus, d.h. an die Landesherren Braunschweigs, rückte also auch in den Blickpunkt der Braunschweiger. Da der Autor aber nicht auf die Stiftung einer christlichen Kirche auf der Harzburg zu der Zeit Karls des Großen zurückgreifen konnte, erfolgt die christliche „Umwidmung“ des heidnischen Heiligtums in Osterwieck.

Natürlich mögen in der Nähe des oder auf dem großen Burgberg germanisch-sächsische Gottheiten verehrt worden sein; es gibt aber nicht einmal archäologische Spuren einer altsächsischen Siedlung im Krodo-Tal - das seinen Namen erst im 19.Jahrhundert bekommen hat - wo sich nach Meinung von W. Lüders (a.a.O.) das Krodo-Heiligtum befunden haben könnte. Der Name von Krodo als einem germanisch-sächsischen Fruchtbarkeits-Gott taucht nirgends in alten Quellen auf, in denen germanische Götter genannt werden. (Sonst ist Phol / Fro / Fricco / Freyr für die Fruchtbarkeit zuständig; „Phol“ wird in den althochdeutschen „Merseburger Zaubersprüchen“ genannt – möglicherweise ist er mit dem nordischen Freyr identisch. Eine Brücke von Freyr/Phol zu „Krodo“ zu schlagen, ist reine Spekulation!). Die „Anhänger“ Krodos können sich also nur auf den Autor der Sachsenchronik berufen, ein historisch nicht gerade verlässliches Fundament!

Es lässt sich auch nicht belegen, dass Karl der Große bis in die Gegend der Harzburg gekommen ist. In den „Reichsannalen“ heißt es, dass er mit einem Teil seines Heeres an die Oker (obaccrum fluvium) kam. Dort hätten ihm die „Ostleute“ der Sachsen unter „Hassio“ Treue geschworen und Geiseln gestelllt. Jedenfalls hatte Karl nach der Unterwerfung der Ostsachsen unter ihrem Führer keinen Grund mehr, an den Harzrand zu ziehen und dort ein abgelegenes und unbedeutendes heidnisches Heiligtum zu zerstören. Es heißt dann auch, er sei in die Gegend von „Bucki“ (Bückeburg) zurückgekehrt. Es ist also wohl nichts damit, dass der Frankenkönig eigenhändig die Krodostatue zerstört hätte!

Suchen wir nach einer etymologischen Erklärung des Namens! Von „Chronos“ griech. „Zeit“ als Erstname von Saturn kann „Krodo“ wohl kaum abgeleitet werden. Was sich nahe legt, ist Mittelniederdeutsch: Krode, neuhochdeutsch: Kröte, als Eigenschaftswort: giftig, bösartig, schlimm…Dazu existieren eine Reihe von Zusammensetzungen: Krodenloite - Hexe, Teufelsbuhlerin; Krodenhorenkint – Teufelshurenkind, ein Schimpfwort; Krodenduvel – Krötenteufel, u.a. (Gerhard Köbler, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, ³ 2014). Die Kröte gilt als „Teufelstier“. Hinter den „heidnischen“ Göttern verbirgt sich nach mittelalterlicher Auffassung der „Teufel“. Dass die Bezeichnung „Krodo“ mit „Kröte“ zusammenhängt, darauf verweist der Autor der Sachsenchronik selbst:
“Heißt Krodo euer Gott? Das heißt der Kröten-Teufel! Von daher kam das böse Wort unter den Sachsen.“
Das „böse Wort“ ist eine Verwünschung, ein Fluch: krodenduvel!  Das weiß Basilius Faber, wenn er in seiner Übersetzung der (lateinischen) „Saxonia“ von Albert Krantz (1563) schreibt: „und ist diß wort Krodo unter den Sachsen blieben zum fluch und grewel (Greuel) für einem sehr argen und schendtlichen Dinges.“ (2. Buch, 12. Kap., S. 776). Auch Luther kennt diese Verwünschung: In seiner Auslegung zum 118. Psalm unterbricht er seine Ausführungen zum 17. Vers (Beginn: „Und dies ist der aller ergest und verdrießlich vers…“) mit der Interjektion: 
„Kroden teufel / Es ist nicht gut mit den Heiligen streiten…“
Das schöne Confitemini / an der zal der CXVIII Psalm. Ausgelegt durch Mart. Luther Wittemberg A.D.  M.D.XXXI. /Lufft - Bildschirmfoto: Google Play, S. 74
Ich komme zu dem Schluss, den der Bote-Kenner und ehemalige Professor für niederdeutsche Philologie, Gerhard Cordes, (a.a.O., S.21) – wenig beachtet - zieht:
„Bote hat also zweifellos seine gelehrttuende Bildung Krodo aus diesem volkstümlichen Fluch übernommen und das Ableitungsverhältnis herumgedreht.“
Das heißt, das „böse Wort“ „Krodenduvel!“ ist nicht von Krodo abgeleitet, sondern der „teuflische Götze“ hat seinen Namen von diesem üblen Schimpfwort bekommen! Wie sollte er auch sonst heißen, einen anderen - echt altsächsischen - Namen neben „Saturn“ hatte der Autor nicht zur Hand. Demnach wäre der dem Leser der Sachsenchronik vertraut, „heimatlich – sächsisch“, klingende Name „Krodo“ neben der fremdländisch lateinischen Bezeichnung „Saturnus“ einem pseudo-gelehrten „Wortspiel“ des Autors entsprungen! Ein Hinweis darauf, dass die Bezeichnung nicht bis in die „heidnische“, also alt-sächsische Zeit reicht, ist, dass das Wort „Krode“ nicht im Altsächsischen zu finden ist. Da wird für „Kröte“ (wohl latinisierend) „bofo“ (lat.: bufo) überliefert (G. Köbler, Altsächsisches Wörterbuch, 2014).

Abschließend möchte ich noch auf zwei „Nebenschauplätze“ des Krodo-Streites eingehen. Der Neustadter (Harzburger) Forstschreiber E.J.G. Leonhard hatte in seinem Buch, Die Harzburg und ihre Geschichte, Helmstedt 1825, die volkstümliche Überlieferung von der Krodo-Verehrung  auf der Harzburg aufgenommen. (Der schon erwähnte Regierungsrat Delius - siehe oben - hat dann die Schrift von Leonhard sozusagen nach Strich und Faden auseinandergenommen.)  Nach Leonhard  habe zu Füßen des Abbildes des Gottes ein Altar, der sogenannte „Krodo-Altar“, gestanden, auf welchem dem „Götzen“ Opfer gebracht worden seien. (Das oben abgebildete Gemälde von Weitsch nimmt dies auf.) Dieser aus Bronze hergestellte und ursprünglich mit Gold und Glas verzierte Altar befindet sich heute im Goslarer Museum, wohin er nach dem Abriss des Goslarer „Doms“ gelangte. (Es könnte schon sein, dass der transportable Altar ursprünglich in dem provisorischen Kirchengebäude Heinrichs IV. auf der Harzburg verwendet wurde und nach deren Zerstörung in die Goslarer Pfalz kam, aber das lässt sich nicht belegen.)  Es ist von seiner Gestaltung her ein romanisches Werk aus dem 11./12. Jahrhundert. Seine Bezeichnung hat er in der Neuzeit aufgrund der Krodo-Sage – wie auch das Krodotal – erhalten. Es gänzlich abwegig, ihn als „heidnischen Altar“ zu bezeichnen. Auch die bärtigen Köpfe, die ihn tragen, sind keine „heidnischen Priester“ – so wurde vermutet -, sondern symbolhafte Trägerfiguren, wie sie auch die Sockel anderer romanischer Kunstwerke zieren (z.B. die der Figur des „Wolfram“ im Erfurter Dom - hier der Link zu einem Artikel des Autors über dieses geheimnisvolle Standbild). Es dürften beim "Krodo-Altar" „Atlanten“ sein, die dem Riesen Atlas der griechischen Mythologie – er trug das Himmelsgewölbe – nachgebildet sind.


Krodo
Der sogenannte Krodo-Altar - ein Tragealtar - aus Goslar (heute im "Goslarer Museum"). Er wurde aus Rammelsberg-Kupfer im 11. Jahrhundert hergestellt. Die "Löcher" waren einst mit Gold- und Kristallglaszierat ausgefüllt. Die Bezeichnung ist neuzeitlich
Krodo
Eine der Trägerfiguren des Altares

Ebenso abwegig ist es, in einem verwitterten Kopf an einer der Außenwände der Bad Harzburg-Bündheimer Kirche St. Andreas eine von der Harzburg stammendes Erinnerung an Krodo zu sehen. Es ist deutlich zu erkennen, dass der Kopf in die Wand der um 1610 teilweise abgerissenen und erweiterten Kirche eingefügt wurde. Er stammt aber wohl kaum aus der Harzburg; es ist nahe liegender, dass er aus der Vorgängerkirche übernommen wurde. Es ist schon so, dass der schnauzbärtige Kopf  einem „alten Sachsen“ ähneln könnte, doch solche Köpfe gibt es allenthalben an alten Kirchen, Häusern und Säulenkapitellen. Sie sollen „Dämonen“ und böse Einflüsse abwehren. Dabei können sie durchaus das Heidentum repräsentieren, aber die Züge Krodos in diesem Gesicht zu sehen, erscheint mir hergeholt. 

Krodo
Kopf an einer Außenwand der Sankt-Andreas-Kirche in Bad Harzburg-Bündheim

 Kopf an einer Säule in der Goslarer Pfalz

Nach alle dem ergibt sich, dass Krodo zu den Sagenfiguren des Harzes gerechnet werden muss, oder besser gesagt, er ist wahrscheinlich eine „Erfindung“, aus der eine Sage wurde. Von daher müsste er eigentlich in die „Harzer Sagenhalle“ auf dem Burgberg aufgenommen werden oder dort aufgestellt werden und nicht an exponierter Stelle eines historisch bedeutsamen Areals stehen. Nun, ich nehme das nicht so ernst, seine Statue dort ist ein Blickfang und Anziehungspunkt für Besucher auf dem karg ausgestatteten Gelände. Aber es könnte doch ein schiefes Bild entstehen: mit der Harzburg sind wichtigere, historisch fassbare Gestalten und Ereignisse verbunden, die so für den geschichtlich nicht Bewanderten in den Hintergrund treten. Und ob der Berggipfel, auf dem dann die Harzburg errichtet wurde, je ein germanischer Kultort war, verschwimmt im Nebel der Vorzeit. Hingegen ist nachweisbar, dass mit dem Eintritt dieser Stätte ins Licht der geschichtlichen Urkunden die Verehrung des Christengottes eine wichtige Rolle spielte. Auch dies ist der Erinnerung wert und würde es verdienen, herausgestellt zu werden.

Krodo
Tafel in der Wandelhalle in Bad Harzburg, in der Wasser der "Krodo-Quelle" (erbohrt 1873) ausgeschenkt wird - mit einem schönen Spruch!

Krodo
Krodo am "Jungbrunnen" in Bad Harzburg (2003). Er schaut skeptisch drein - meint er sich selber?

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Dieses Blog ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung zweier Artikel, die in Zeitschriften erschienen sind – dort finden sich auch die wissenschaftlichen Anmerkungen und Belege.
Wolfram Janzen, Die Harzburg und ihre Kaiser, in: Unser Harz, 65. Jahrgang Nr. 7 und 8 2017  
Ders., Ein Sachsengott "Krodo"?, in: Harz-Zeitschrift, 69. Jahrgang 2017
(dazu Goslarsche Zeitung 16.12.2017 - Holger Schlegel, Forscher sagt: "Krodo gab es nie")

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